Corona-Zahlen nachgefühlt

Die Zeit hat heute ein Interview mit einem Berliner Intensivmediziner veröffentlicht, unter der plakativen Überschrift: „Jeder dritte Covid-Patient auf einer Intensivstation stirbt“.

Schon vor der Lektüre des Artikels drängte sich mir eine Frage direkt auf: „Ist das eigentlich viel?“

Auf einer Intensivstation landen, wie schon der Name andeutet, besonders schwere Fälle. Ist die Mortalität bei Covid-19-Patienten überdurchschnittlich hoch? Wie hat sie sich im vergangenen Jahr entwickelt? Im Artikel habe ich hierzu kein Indiz gefunden – ist ja auch ein Interview. Ein Kasten mit etwas Kontext wäre trotzdem schön gewesen.

Alles muss man selber machen.

(Spoiler: Ja, die Mortalität von Covid-Patienten ist überdurchschnittlich hoch. Sie ist im vergangenen Jahr allerdings auch deutlich gesunken. Und: Jenseits des Tellerrands sind die Zahlen noch viel, viel schlimmer.)

Wenn sich an dieser Stelle jemand räuspert und unterstellen will, ich wolle das Corona-Elend in irgendeiner Form kleinreden: Dem ist nicht so. Mir ging es keineswegs darum, Menschenleben gegeneinander aufzuwiegen, ich suchte nur nach Kontext. Den zu finden, war gar nicht einfach.

Wenn jemand die folgenden Zahlen in irgendeiner Form für demagogische Zwecke instrumentalisieren möchte, dem sei gesagt: Vergiss es. Bau Deine hässlichen Trivialisierungsversuche und Verschwörungsluftschlösser gefälligst ohne mich.

Zahlen auf der Spur

Es geht mir also nur darum, dieses Zitat von Prof. Dr. med. Kai-Uwe Eckardt von der Charité in Berlin in Relation zu setzen:

„Bei der Diskussion über die Betten wird vergessen, dass trotz der Therapie etwa jeder dritte Covid-19-Patient auf einer Intensivstation stirbt. Bei uns an der Charité, wo wir die am schwersten erkrankten Patienten aus Berlin und den angrenzenden Regionen versorgen, ist die Sterblichkeit sogar noch etwas höher.“

Jeder dritte Covid-Patient auf einer Intensivstation stirbt“ , Interview auf Zeit Online vom 19.4.2021

Für das Folgende habe ich eine ganz grundsätzliche Suchmaschinen-Recherche unternommen. Eine recht hilfreich klingende Statistik zur durchschnittlichen Sterblichkeitsrate in deutschen Krankenhäusern hat Statista hinter seiner Bezahlschranke (Paywall) versteckt: „Zahle uns Geld für ein Premium-Abo und erst dann zeigen wir Dir, was wir aus öffentlichen Quellen herbeigezaubert haben. Gratis zeigen wir Dir nicht einmal, aus welchen Quellen wir das haben.“

(Statista ist eine kommerzielle Website, die Statistiken aufbereitet, z. B. um Präsentationen mit zur Hypothese passenden Zahlen zu untermauern.)

Erste Zahl: Regensburg, 2001

Dann halt zu Fuß.

Erste Anlaufstelle ist ein etwas obskurer PDF-Link, aus der Google-Suche. Die Dissertation „Intensivmedizin im Wandel der Zeit“ von Alexandra Sieglinde Bär befasst sich u. a. mit der Mortalität der Intensivstation des Uniklinikums Regenburg im Jahr 2001:

Von den 452 Patienten, die in die Auswertung einbezogen werden konnten, haben 84,1% (n=380) die Intensivstation lebend verlassen. […] Von den 380 Patienten, die die Intensivstation lebend verlassen konnten, versterben 19 (4,2%) nach ihrer Weiterverlegung auf eine hausinterne Normalstation. Somit beziffert sich die gesamte Klinikumsmortalität, die sich aus der Sterblichkeitsrate auf der Intensivstation und der, der sich an den Intensivaufenthalt anschließenden Stationen zusammensetzt, auf 20,1% (n=91).

Intensivmedizin im Wandel der Zeit“ , Dissertation von A. Bär, 2011

Da ich nach einem Vergleichswert zum Zitat von Prof. Dr. med. Kai-Uwe Eckardt suche, ignoriere ich die Klinikumsmortalität: Die reine Mortalität auf der Intensivstation im Untersuchungszeitraum betrug also 15,9%.

Aktuell fordert Covid-19 auf Intensivstationen doppelt so viele Todesopfer! Uff.

Aber ist Regensburg typisch? Mal nachsehen.

Zweite Zahl: Medizinischer Fachartikel, 2020

Einem Artikel auf Medscape zufolge ist zwischen 2007 und 2015 der Anteil der auf der Intensivstation gestorbenen Krankenhauspatienten jährlich um 2,8% gestiegen. Insgesamt wird die durchschnittliche Mortalität hier mit „ITS: 15,0%-14,8%“ angegeben.

Dieser Artikel erschien am 8. Januar 2020, also kurz vor Covid:

Die Mortalität blieb im Untersuchungszeitraum mehr oder minder gleich (Klinik: 2,4%-2,3% bzw. ITS: 15,0%-14,8%).

Mehr und mehr multimorbide Kranke sterben auf Intensivstationen und nicht mehr zu Hause. Liegt es an zu vielen ITS-Betten?“ von Roland Fath, 8. Januar 2020

Die Zahlen stammen aus einer Studie von PD Dr. Christiane Hartog an der Berliner Charité. (Genau, das ist dieselbe Klinik, an der der von Zeit Online interviewte Mediziner arbeitet.)

Der Autor des Artikels stellt übrigens die These auf, Deutschland habe zu viele Intensivbetten. Es seien dreimal so viele wie der europäische Durchschnitt und mehr als in den USA: „Die aktuelle Situation schüre das Risiko einer Übertherapie.“ Im aktuellen Kontext wirkt das komplett aus einer anderen Welt.

(Der fragliche Artikel liegt übrigens auch hinter einer Paywall. Ohne JavaScript kann man ihn allerdings komplett lesen.)

Ca. 15 Prozent sind also wohl eine gute Hausnummer für die Sterblichkeitsrate auf deutschen Intensivstationen.

Entwicklung der Corona-Sterblichkeit in Europa

„Gute“ Nachrichten: Einem Artikel aus dem deutschen Ärzteblatt zufolge ist die Sterblichkeitsrate auf deutschen Intensivstationen seit Beginn der Pandemie deutlich zurückgegangen.

Starben bis Ende März noch 59,5 % der Intensivpatienten, so waren es Ende Mai noch 41,6 %, wie ein Team um Tim Cook von der Universität Bristol in einer früheren Metaanalyse in Anaesthesia (2020; DOI: 10.1111/anae.15201) berichtete. Inzwischen ist die Sterberate weiter auf 35,5 % (Stand: Ende September) gefallen.

Quelle: „COVID-19: Mortalität auf Intensivstation sinkt nur langsam – bessere Ergebnisse in Schweden?“ , 2. Februar 2021

In Europa lag die Sterblichkeit demnach bei 33,4 Prozent, in Nordamerika bei 40 Prozent. Jetzt kommt wieder ein Schlag in die Magengrube:

Nicht überraschen dürfte, dass in Ländern mit niedrigem Einkommen die Mortalität mit 68,1 % wesentlich höher war als in den reicheren Ländern mit 35,1 %.

Doch, hat mich überrascht. Wer in, sagen wir Indien, mit Corona auf der Intensivstation landet, stirbt etwa doppelt so oft wie in Deutschland. Und in Deutschland sterben die Corona-Patienten auf der Intensivstation doppelt so häufig wie die Intensivpatienten v. C. (vor Covid).

Corona ist richtig blöd – wer es nicht ernst nimmt, noch blöder

Zusammengefasst: Die Sterblichkeitsrate von Covid-Patienten auf Intensivstationen war schon schlimmer – genauer: Zu Beginn der Pandemie starben etwa doppelt viele Leute in Intensivstationen an Corona wie aktuell (April 2021).

Aber: Die aktuelle Sterblichkeitsrate von Covid-19-Patienten auf Intensivstationen ist doppelt so hoch wie die zuvor als typisch gesehene Sterblichkeitsrate auf Intensivstationen.

Wäre richtig schön gewesen, diese Information in einem Artikel zu lesen, der direkt mit der Sterblichkeitsrate auf Intensivstationen anfängt. Statt Leser nach Zahlen fischen zu schicken. Über eins bin ich mir nämlich sicher: Bei Zeit Online hat bestimmt irgendjemand ein Premium-Abo bei Statista.

Anmerkung: Wer bessere Zahlen hat, bitte her damit. Wer mir methodologische Fehler aufzeigen kann, der lasse mich das bitte wissen. Alles, was diesen Text besser macht, ist immer willkommen.

P. S. : Erste Reaktion: „Da fehlen ja noch Zahlen. Da wäre vielleicht ein Kontext-Kasten gut gewesen.“ Interessant fände ich z. B. eine Korrelation der Todeszahlen aus der Intensivmedizin mit der Zahl der insgesamt an Covid Gestorbenenen (Sind alle deutschen Corona-Toten auf der Intensivstation gestorben?).