Gerald schraffiert

Schraffurtechnik fasziniert mich. Jean „Moebius“ Giraud war ein Meister des locker-präzisen Strichs, Tove Jansson veredelte ihre einfachen Grundideen gekonnt mit komplexen Schraffurmustern, und Maurice Sendak hatte für jede Struktur die richtige Linienführung parat. Von Travis Charest will ich gar nicht anfangen — der Mann hat eine Technik, bei der ich vor Neid grün werden könnte.

Meine eigenen Versuche in die Richtung erschienen mir eher stümperhaft. Also habe ich ein paar Bücher gelesen, deren Tipps vor allem Förmlichkeiten betrafen: Vermeide 90-Grad-Winkel, übe geduldig präzise Strichführung, … das hatte ich alles schon hinter mir. Frustriert sah ich mir ein paar Video-Tutorials an. Vielleicht würde der Funken endlich überspringen, wenn ich Leuten dabei zusehe, die das richtig können.

Das einzig Wahre: Könnern über die Schulter gucken

Und tatsächlich: Nach zwei YouTube-Videos ging mir plötzlich (endlich!) ein Licht auf.

Die beiden Ansätze hätten nicht unterschiedlicher sein können. Das eine zeigte eine kontrollierte, zeitintensive Technik zur Umsetzung sehr feiner, strukturierter Schraffuren. Das andere zeigte mehrere Ansätze und wildes Gekrakel: Hauptsache, Spaß.

Die Ergebnisse der beiden Ansätze waren sehr unterschiedlich, aber gleichermaßen ansprechend. Das Geheimnis der perfekten Schraffurtechnik scheint zu sein, dass es keine gibt. Ich beschloss, selbst mal Techniken auszuprobieren und ging auf Motivsuche.

Das große Portraitprojekt

Ich entschloss mich für meine Übungen für Portraits möglichst ausdrucksstarker Gesichter und sammelte erst mal Fotovorlagen. Über mehrere Monate hinweg habe ich dann ca. 50 Schraffurzeichnungen produziert, vor allem von Schauspieler:innen.

Die ersten Versuche entstanden am PC im Zeichenprogramm „Clip Studio Paint“ mit unterschiedlichen Federn und Schraffurmethoden. Dann sattelte ich um auf die App „Infinite Painter“ — erst auf einem iPad Pro 12.9, dann auf einem Galaxy Tab S7+.

Zur Vorgehensweise

Da es mir vor allem um die Suche nach einer funktionierenden Schraffurtechnik ging, habe ich die Gesichtskonturen mehr oder weniger durchgepaust. Trotz dieser Abkürzung brauchte jedes Bild immer noch ein bis zwei Stunden.

Grundidee war, auf Kreuzschraffuren zu verzichten — das sind quer übereinander liegende Linien. Ich habe dazu mit unterschiedlichen digitalen Pinseln und Federn experimentiert.

Zum Einsatz kamen aber keine Werkzeuge, die mehrere Striche gleichzeitig setzen — schon weil dieser faule Zauber sofort auffällt. Um es noch einmal klar zu wiederholen: Jeder Strich in meinen Bildern ist Handarbeit. Die digitale Umsetzung spart nur Zeit und vermeidet Tintenfinger.

Was die wenigsten Tutorials mit dem nötigen Nachdruck erwähnen: Schraffieren ist vor allem eine Frage von Rhythmus und Geduld. Einerseits wird das Gestrichel schnell langweilig, andererseits müssen die Striche kontrolliert bleiben. Jeder Irrläufer fällt auf.

Ich habe die Monate über überall schraffiert: in Wartezimmern, bei Besuchen, vor Besuchern, am Frühstückstisch, auf Parties. Wo andere nebenher häkeln, schraffierte ich. Freundlicherweise ließ meine Umwelt mich stets gewähren.

Erfahrungen

Gewisses Grundtalent vorausgesetzt, ist Schraffieren in erster Linie eine Frage der Übung. Übung, Übung, Übung, Übung. Und Geduld. Ein paar Motive habe ich mehrfach in Angriff genommen, weil ich beim ersten Mal nicht zufrieden war. Bei einigen war ich auch nach dem dritten Mal nicht zufrieden.

Ich habe unterschiedliche Methoden ausprobiert, z. B. Zeichnungen, wo sich die Striche streng an eine gemeinsame Richtung halten und Bilder, wo ich der Linie freien Lauf ließ.

Dinge, die funktionieren:

  • geduldig bleiben und nicht schlampen
  • erst die dunkelsten Bereiche schraffieren und sich dann immer weiter in Richtung hellerer Bereiche vorarbeiten
  • je heller der Bereich in der Vorlage, desto dünner die Linien und größer deren Abstand
  • mit den Linien den Formen folgen
  • für Haut und Haare unterschiedliche Schraffurmethoden verwenden
  • am Schluss noch einmal nachbessern, wo nötig
  • ob ein Bild gelungen ist, zeigt erst das Ergebnis — zwischendurch sieht es immer besser oder schlechter aus, als es ist

Wer sich auch mal an Schraffuren versuchen will: Bücher helfen hier nur begrenzt. Am zweitbesten ist es, anderen dabei zuzusehen, wie sie das machen. Am besten ist es, es selbst zu machen, und dabei nicht den Mut zu verlieren.

Die Belohnung sind Zeichnungen, deren Ausarbeitung beeindruckt. Oft muss das Motiv nicht besonders detailreich sein, um daraus eine präzise wirkende Zeichnung zu machen — die feinen Striche stellen auch dann Plastizität her, wenn das Motiv eine geringe Auflösung besitzt.

Alle Portraits sind in einer eigenen Kategorie zu finden. Galerien sind in Arbeit …