Als ich vorhin niesen musste, schien draußen plötzlich die Sonne.
Es gibt diverse Möglichkeiten, mit dem Aufeinandertreffen dieser Ereignisse umzugehen.
Die einfachste besteht darin, sich über die Sonne zu freuen.
Ebenfalls möglich ist, einen direkten Zusammenhang zu sehen: „Wenn ich niese, kommt die Sonne raus.“ Je nach Wolkenlage kann es gelingen, diesen Vorgang zwei, dreimal zu reproduzieren. Das reicht als Beweis: Wenn ich niese, scheint sofort die Sonne.
Die Sonne kommt raus
Diesen Zusammenhang erkläre ich anderen Leuten. Wenn die Wolken mitspielen, kann ich es sogar demonstrieren. Langsam spricht es sich im Bekanntenkreis herum: Wenn Gerald niest, kommt die Sonne raus!
Zugegeben: Der Sonnensegen klappt nicht immer. Das liegt dann aber daran, dass ich es falsch gemacht habe. Es klappt zum Beispiel nicht, wenn ich versuche, den Nieser zu erzwingen. Es funktioniert nur beim natürlichen Niesen. Wie gut, dass ich gegen so viele Sachen allergisch bin.
Es folgen wolkenverhangene Tage. Ich niese, keine Sonne. Ich suche verzweifelt nach Gründen. Mag es am Nasenspray liegen? Vielleicht daran, dass ich das Antiallergikum gewechselt habe? Es muss doch einen Grund für mein Versagen geben.
Das Sonne-herbei-niesen funktioniert nicht, solange meine Frau zuguckt. Vermutlich hat sie einen bösen Blick. Es funktioniert nicht, wenn ich ein schwarzes Unterhemd trage. Ich trage nur noch weiße Wäsche, aber die Sonne kommt trotzdem nicht.
Die Suche nach dem Grund
Ich finde dreizehn Gründe, aus denen der Effekt nicht eintritt. An einem Dienstag niese ich und die Sonne bricht durch, obwohl meine Frau zugeguckt hat. Ich muss wohl meine Annahmen überprüfen. Beim nächsten Niesen in Anwesenheit meiner Frau funktioniert es dann wieder nicht. Vielleicht hatte sie den bösen Blick vorübergehend abgestellt. Kann ich mir einen Scheidungsanwalt leisten?
Trotz der Aussetzer läuft es mit dem Niesen insgesamt gut. Leute erkennen mich auf der Straße wieder. Wenn die Sonne scheint, erzählen Nachbarn einander, das sei mir zu verdanken. Das Wetter folgt meiner Nase. Wie lange mag ich diese außergewöhnliche Fähigkeit schon besessen haben, ohne sie zu bemerken?
So wandele ich betont entspannt die Hauptstraße entlang: ganz in Weiß, eine Lichtgestalt, der Gerald, dessen Nieser die Sonne bringen. Scheint die Sonne den ganzen Tag, bekomme ich erfreute Textnachrichten: „Erstklassig geniest! Danke!“ Ich mache einen Podcast, ich schreibe ein Buch: Die Sonne herbeiniesen.
In der Nacht kommen die Sorgen
Nachts habe ich Probleme beim Einschlafen, weil mich immer wieder die Sorge beschleicht, dass Gott mir diese Gabe wieder nimmt. Was für ein trostloses Wetter müssten wir alle aushalten, wenn meine Nieser nicht mehr wären? Unerträglich, dieser Gedanke.
Weil das Niesen nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit klappt, setze ich das Antihistamin ab und verneine mir auch den Spray. Meine Nase läuft nur noch, ich komme immer häufiger außer Puste, das Asthma kehrt zurück. Ich schlafe jede Nacht sehr unruhig und wache durchgeschwitzt auf. Meine Frau hat mich verlassen — ich sei so kauzig geworden.
Aber ich bin jetzt ein wichtiger Mensch, in der Nachbarschaft angesehen und nach außen hin ein echter Erfolgstyp. Mein Buch verkauft sich auch ganz ordentlich.
Ein seltener Besucher
Ein guter Freund, den ich lange nicht mehr gesehen hatte, kommt auf eine Tasse Tee vorbei. Wie ich mich verändert habe, merkt er an. Ich erzähle ihm ausführlich von meiner neuen Gabe und davon, wie ich mich aufopfere, der Sonne zuliebe. Er fragt mich: „Könnte das nicht alles auch ein Zufall sein?“
Ich starre ihn enttäuscht an. Wie kann er so etwas nur sagen. Er hat gar nichts verstanden. Dabei waren wir einst so enge Freunde.