30 Jahre Myst (2): Diverse Details

Wie so oft, habe ich für meinen Artikel über 30 Jahre Myst für Heise Online viel zu viel Mühe in die Recherche gesteckt. Es begann damit, dass ich „RealMyst“ und „Myst (2021)“ von Anfang bis Ende durchgespielt habe. Beim jüngsten Remake habe ich den Zufallsmodus verwendet, der die Lösung einiger Rätsel bei jedem Spiel neu auswürfelt.

Meine ganz individuelle Meinung zu den Schwächen der diversen Remakes habe ich in einem vorangegangenen Text geäußert: 30 Jahre Myst (1): Blick zurück im Zorn.

Für den Heise-Online-Artikel habe ich desweiteren diverse Artikel über Myst studiert, Interviews mit den Erfindern, alte und neue Rezensionen, Reddit- und Steam-Diskussionen, Walkthroughs … bis das alles in ein paar Wochen wieder aus meinem Gedächtnis gefallen ist, bin ich kurzzeitig ein weltweit führender Myst-Experte.

Ein paar Dinge, die noch im Hinterkopf herumhüpfen:

Am Anfang stand der Bluff

Die Entwickler des Ur-Myst müssen sehr gute Pokerspieler sein. Sie haben seinerzeit einen superguten Vertrag mit ihrem Auftraggeber abgeschlossen und im wesentlichen geblufft, dass sie den geschlossenen Vertrag auch erfüllen würden können.

Keine Engine? Kein Problem!

Bekanntlich bestand das ursprüngliche Entwicklerteam nur aus fünf Menschen: den Miller-Brüdern Rand und Robyn sowie drei Angestellten. Das ging nur deshalb, weil das Entwicklerstudio sich den Aufwand gespart hatte, eine eigene Engine zu entwickeln. Stattdessen entwickelte Rand Miller das Spiel im Hypertext-System HyperCard, das es nur für Mac OS gab.

Im Prinzip ist das Ur-Myst also nicht alles als eine Sammlung an Hyperlinks, wie diese Website. Statt auf Text-Links klicken Spieler auf Hotspots in Standbildern, aber das Prinzip ist dasselbe.

Mazerunner-Screenshot aus Myst Masterpiece Edition
Das berüchtigte Maze-Runner-Puzzle im Urzustand (Myst: Masterpiece Edition)

Myst besteht aus ~2500 Einzelbildern, die einzeln auf Macintosh-Quadra-Rechnern gerendert worden waren. Die Software Stratavision 3D benötigte für das Rendering jedes dieser Bilder zwischen 2 und 14 Stunden — trotz der mickrigen Auflösung von 640 × 480 Pixeln. Wie lange die Berechnung der animierten Zwischensequenzen benötigte, ist nicht überliefert.

Ein Spiel mit vielen Geburtstagen

Die Portierung auf andere Systeme fand durch den Auftraggeber statt, das japanische Spielestudio Sunsoft und den US-amerikanischen Distributor Brøderbund. Am 24. September 1993 erschien lediglich die Mac-Version; die Windows-Version erschein im März 1994, die Konsolenversionen tröpfelten erst 1995 nach und nach auf den Markt.

In dieser einen Hinsicht ist Myst wie Doom: Irgendwie gibt es das für fast jede Plattform. Ein kurzer Überblick (ausführliche Liste hier):

  • Rechner: Mac OS, Microsoft Windows, AmigaOS
  • Konsolen: Saturn, PlayStation, 3DO, Atari Jaguar CD, CD-i, PlayStation, Nintendo 3DS Portable, Nintendo DS, Nintendo Switch, Xbox One, Xbox Series X/S
  • Sonstige: Pocket PC, iOS, Android, Oculus Quest, Oculus Quest 2

Quelle: Wikipedia (englisch)

Minimalistisch aus der Not

Der berühmt-berüchtigte Minimalismus des Spiels (kein Inventar, keine kombinierbaren Gegenstände, keine Dialoge …) ergab sich in erster Linie aus den Beschränkungen, die der HyperCard-Unterbau den Miller-Brüdern auferlegten. Es war schlicht nicht möglich, damit ein Inventar zu entwickeln, es war ja alles nur eine Ansammlung von statischen Bildern mit eingebetteten Videos. Ein Wunder, dass Spieler überhaupt Buchseiten einsammeln, in die Hauptwelt tragen und dort abgeben konnten.

Robyn Miller als Sirrus in RealMyst
Mangels Zeit und Budget spielten die Spiele-Entwicker die drei Hauptrollen selbst. (RealMyst: Masterpiece Edition)

Video-Elemente wurden erst auf halber Strecke der Entwicklung möglich, weil sich Apple QuickTime erst dann in HyperCard-Seiten einbetten ließ. Da den Miller-Brüdern langsam der Vorschuss knapp wurde, verkörperten sie die drei Figuren des Spiels kurzerhand selbst: Robyn spielte Sirrus, Rand verkörperte sowohl Achenar als auch Atrus.

Der gute Ton

Das, was an Myst immer noch gut funktioniert, ist das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Angesichts der stark eingeschränkten grafischen Möglichkeiten war dafür vor allem die Klanguntermalung zuständig. Dass um die Insel das Meer plätscherte, war nur zu hören, nicht zu sehen: Im Ur-Myst war das Wasser nur eine grüne, leicht unruhige Fläche.

Die „Natur“-Sounds erzeugte Chris Brandcamp mit Methoden wie bei einem Film-Soundtrack: So entstand beispielsweise das Betriebsgeräusch eines mannshohen Wasserboilers aus einer Aufnahme von Steinen, die langsam über Asphalt gezogen wurden.

Spieler durchqueren weitgehend stille Welten, Musik taucht nur bei besonderen Ereignissen und in bestimmten Umgebungen auf. Dieser Soundtrack wurde von Robyn Miller komponiert und auf einem E-mu Proteus MPS Synthesizer abgemischt.

Das Marketing macht’s

Als der Distributor Brøderbund die ersten Spieletester auf das Spiel losließ, reagierten diese mit Verachtung. Der ganze Aufwand schien umsonst zu sein. Um so größer war die Überraschung und Erleichterung, dass die zweite Testergruppe alles liebte, was die erste Gruppe gehasst hatte!

Bruce Fredericks aus der Marketing-Abteilung von Brøderbund erdachte den Slogan „The surrealistic adventure that will become your world“. Die Miller-Brüder fanden den Spruch schrecklich, aber der Slogan dürfte viele Spieler angezogen haben.

Der deutsche Slogan war übrigens „Das surrealistische Abenteurer, das Sie in seinen Bann zieht“. Dies stand aber nur auf der Rückseite der deutschen Box, da dieselbe Verpackung auch in Frankreich vertrieben wurde.

Am Maze Runner scheiden sich die Geister der Millsers

Robyn Miller bezeichnete das Maze-Runner-Labyrinth 2015 auf der GDC-Bühne als „That was our worst puzzle“ und gab zu: „We failed on that one totally“. Ursprünglich sollten Spieler das Labyrinth sogar zu Fuß durchqueren. Die Idee wurde dankenswerterweise fallengelassen.

Ganz anders Rand Miller, der 2016 in einem Interview standfest behauptete, „There was a certain elegance to that puzzle that I think people don’t understand“ und „the people who hate it are just plain wrong“.

Mazerunner-Screenshot aus Myst 2021
Das berüchtigte Maze-Runner-Puzzle, 28 Jahre später (Myst 2021)

Kurze Historie der Soundtrack-Remakes

Wie das Spiel selbst wurde auch der Myst-Soundtrack von Robyn Miller inzwischen mehrfach veröffentlicht:

  • Die erste Fassung erschien 1995 und wurde nur per Mail Order direkt vom Entwicklerstudio Cyan angeboten.
  • 1998 veröffentlichte Virgin Music das Album erneut, zusammen mit dem Score für das Nachfolgespiel Riven.
  • 2013 erschien zum 20. Jubiläum eine überarbeitete Version. Hierfür mischte Robyn Miller die Musik noch einmal neu ab und entfernte u.a. Halleffekte.
  • 2021 erschien eine Neufassung des Soundtracks auf Vinyl und kurz darauf auf Streaming-Portalen. Die Neufassung enthält drei Bonus-Tracks, allesamt kurze Titel, die ursprünglich für die VR-Neufassung bestimmt waren. Fairerweise ist das Bonusmaterial auch auf Bandcamp als separater Kauf verfügbar.

Darüber hinaus erschien Ende 2018 zum 25. Jubiläum des Spiels eine knapp 20 Minuten lange digitale EP „Ages Inspired by Myst“ von Russell Browser. Die Titel wurden nur für Kickstarter-Unterstützer zugänglich gemacht.

Letzte Worte

Wenn Myst viel zu langatmig erscheint, dann war das volle Absicht: Die Entwickler haben für Myst eine Spielzeit von 40 Stunden vorgesehen. Rand Miller will es mal in zwei Stunden geschafft haben — stolze Leistung.

Auf YouTube sind diverse Myst-Speedruns zu sehen, die in einer Minute oder weniger zum Ziel rasen (Vorsicht, Spoiler). Sie nutzen dazu allerdings einen Trick, der den Großteil des Spiels einfach überspringt …

Rand Miller als Atrus in RealMyst
Rand Miller schlüpfte in zwei Rollen: Achenar und Atrus (RealMyst: Masterpiece Edition)

So, jetzt muss es aber gut sein.