Auf Heise Online erschien heute eine Art „Nachgeburt“ zu meinem Artikel zum 25. Jubiläum von „The Matrix“: Bullet-Time: Wie „The Matrix“ zu seinem berühmten Effekt kam.
Weil mich die Evolution dieses Special Effects so fasziniert hat, ist der Text ein bisschen nerdig geworden: Allein eine halbe Stunde habe ich mit der Suche danach verbracht, welche Standbild-Kameras bei „The Matrix“ nun genau zum Einsatz kam (und wurde in einer 25 Jahre alten Bildunterschrift fündig).
Bei meiner Recherche stieß ich auch noch auf eine Anomalie, von der ich nie zuvor irgendwo gelesen habe. Aber der Reihe nach …
Der Film zum Effekt
Für den Artikel habe ich einen dreiminütigen Clip mit Bullet-Time-Szenen zusammengeschnitten, aus einem Zeitraum von 20 Jahren. Beginnend mit den ersten Experimenten von Tim Macmillan (1980), weiter mit dem Low-Fi-Ansatz in „Kill and Kill Again“ (1981), über das Hyperraum-Panorama in „Lost in Space“ (1998), den Bullet-Time-Moment in „Blade“ (1998), den Hyperraum-Sprung in „Wing Commander“ (1999). Schließlich folgen die berühmten vier Sequenzen in „The Matrix“ (1999) und der Abklatsch in „3 Engel für Charlie“ (2000), um den Kreis zu schließen.
Übersprungen habe ich in meiner Clipshow die im Artikel angesprochenen Musikvideos von Zbigniew Rybczyński und Michel Gondry — ich fand schlicht keine Videos in ausreichender Bildqualität (sie sind aber im Artikel verlinkt).
Besonders interessant finde ich, wie stark die Szenen in „Blade“ und „3 Engel für Charlie“ dem 17 bzw. 18 Jahre älteren Ansatz aus „Kill and Kill Again“ ähneln. Klar, der südafrikanischen Produktion ist das geringe Budget deutlich anzusehen, aber die Dramaturgie ist in allen drei Beispielen dieselbe.
Jetzt noch nerdiger
Ein paar Details wollte ich nicht in den Artikel schreiben, der eh schon doppelt so lang ist wie geplant.
Bereits in meiner Recherche zum Jubiläum von „Wing Commander“ war mir untergekommen, dass der Hyperraumsprung ursprünglich viel mehr Einstellungen umfasste, darunter sogar eine im recht großen Hangar-Set. Offenbar war der Cutter der Ansicht, TimeSlice alias „Bullet Time“ sei langweilig. Vielleicht waren auch technische Unzulänglichkeiten die Motivation für den Schnitt.
Angesichts der Vorgeschichte ist der Einsatz von „Bullet Time“ in „The Matrix“ doppelt famos: Hier ist der Effekt nicht nur ein Aha-Moment ohne besondere Relevanz, sondern perfekt in die Handlung integriert.
Um das Budget für den Effekt zu rechtfertigen, wurde seinerzeit eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, bei der 27 Kameras zum Einsatz kam — eine Filmkamera und 26 Standbild-Kameras. Dabei stellte sich heraus, dass eine „eingefrorene“ Explosion leichter umzusetzen war als ein sich bewegender Mensch.
Im Gespräch mit „Befores & Afters“ beschreibt Pierre Jasmin das Ergebnis des Tests als Fehlschlag: enorm viel Aufwand für ein Ergebnis, das nie vollends zu überzeugen vermochte. Irgendwann waren die Effects-Spezialisten so verzweifelt, dass sie die Gliedmaßen des Schauspielers getrennt animierten. Das Video über die Bullet-Time-Tests gibt einen guten Eindruck darüber, welche Anstrengungen unternommen wurden.
Letztlich wurden die Probleme gelöst, indem von allem etwas mehr zum Einsatz kam: mehr Vorbereitung, mehr Kameras, mehr interpolierte Zwischenbilder.
Der technische Unterbau
Um es auch hier noch einmal zu protokollieren: Bei „The Matrix“ kamen Spiegelreflex-Kameras vom Typ Canon EOS A2 zum Einsatz. Dieses Schwestermodell der EOS 5 war nur auf dem US-Markt verfügbar. Die Kamera galt als zuverlässig und nicht zu teuer. Für die Bullet-Time-Aufbauten wurden bis zu 121 dieser Kameras zusammengeschaltet. Der Aufbau wurde später für die IMAX-Dokumentation „Michael Jordan to the Max“ (2000) eingesetzt.
Viel Zeit habe ich auch damit verbracht, mir anzulesen, wie damals realistisch aussehende 3D-Umgebungen erzeugt wurden. Das war ja alles vor Unbiased-Rendering; auch Image-Based Lighting (IBL) steckte noch in den Kinderschuhen.
In diesem Zusammenhang stieß ich immer wieder auf den Namen Paul Debevec, dessen Pionierarbeit gar nicht hoch genug gelobt werden kann. Er hatte unter anderem den Einsatz von Photogrammetrie zur Erzeugung von 3D-Modellen aus Fotos perfektioniert.
Das mysteriöse Zwischenbild
Bei der Suche nach dem bestmöglichen Bullet-Time-Standbild aus „The Matrix“ fiel mir ein Einzelbild ins Auge (aua), das den Kameraflug in der vierten Bullet-Time-Sequenz jäh unterbricht. Während Neo und Smith in der U-Bahn-Station in der Luft hängen, sind ein Bild lang nur verzerrte Lichter zu sehen.
Ich habe lange gegrübelt. Ist das eine Special Effects Failure? Hatte ich etwa einen Fehler in „The Matrix“ gefunden? Wieso war das niemandem vor mir aufgefallen?
Nach Aufhellen der Szene und genauem Vergleich der umliegenden Bildern fand ich die Lösung: Es ist die reflektierende Spitze einer Kugel aus der von Neo abgefeuerten Pistole!
Zur Erinnerung: Die Bullet-Time-Sequenz auf dem Dach endet damit, dass die Kamera von einer Kugel getroffen wird. Dann wechselt die Szene aus der Zeitlupe zurück in die Normalzeit. In der U-Bahn-Szene ist die Kamera hingegen schneller als die Kugel; der Bullet-Time-Schwenk geht munter weiter!
Der vermeintliche Fehler ist also ein Easter Egg der Computergrafiker. Der Frame muss volle Absicht gewesen sein, schließlich sind die Kugeln in allen Bullet-Time-Sequenzen rein digital. Auch sind an den Rändern des Bilds deutlich die Pfeiler des U-Bahnhofs zu erkennen.
Heute lassen sich Bullet-Time-Effekte viel einfacher umsetzen als damals. Die Software „Xangle Camera Server“ modernisiert das ursprüngliche Verfahren. Kameras aufbauen, ausrichten und anschließen, Linse einstellen, Timing einstellen, Knopf drücken, fertig. Geht auch mit Smartphones, mit einem Gimbal und After Effects oder einer 360-Grad-Kamera.
Für die „Super Bullet Time“ in „The Matrix Resurrections“ (2021) kamen wiederum stereoskopische Kameras zum Einsatz, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten filmten. An einer Stelle wurden wohl auch parallel in Zeitlupe filmende Red-Kameras eingesetzt.
Ein Detail noch: Damals, also bei den Dreharbeiten zum allerersten Matrix-Film, waren sich die Wachowskis bei den Dreharbeiten nicht so gaaaaanz sicher, dass der ambitionierte Bullet-Time-Effekt wirklich funktionieren würde. Trotz des Demo-Videos im Rücken. So drehten sie die berühmte Szene auf dem Hochhausdach vor Ort zur Sicherheit mit konventioneller Zeitlupe. Nur für den Fall des Falles.
Weiterführende Links
- The Campanile Movie (1997), wegweisende Demonstration der von Paul Debevec miterfundenen Photogrammetrie-Technik
- VFX Artists React to Bad & Great CGi 107 (ft. Paul Debevec) (2023) Die Fanboys von Corridor Digital gehen die Visual-Effects-Pionierarbeit von Paul Devebec durch, in Anwesenheit des Urhebers.
- Welcome to the Machine (1999), Artikel von Christopher Probst in der Zeitschrift der American Society of Cinematographers. Ausführlich erklärt Kameramann Bill Pope den Dreh (und eine Bildunterschrift verrät endlich den Typ der Canon-Kamera).
- Manex Shines in „The Matrix“ (1999), Artikel von Softimage, der den Einsatz der 3D-Software für den Bullet-Time-Effekt beschreibt. Besonderes Highlight: Die Wasserspritzer, die Morpheus in der Bullet Time begleiten, entstanden komplett in 3D.
- Bullet Time before Bullet Time (2019), Pierre Jasmin beschreibt für „Befores & Afters“, wie der erste Bullet-Time-Test letztlich ein Fehlschlag war (und wie doch noch alles glatt ging).
- The Matrix Reactions: Bullet Time Redux (2022), sehr PR-lastiges „Making Of“ der „Super Bullet Time“ in der dritten Matrix-Sequel „The Matrix Resurrections“, das sowohl die stereoskopische Kamera als auch einen Aufbau mit acht parallel laufenden Filmkameras zeigt (2:53).