Die Versuchung ist enorm, hier einen großen Riemen über das „Selbstbild des Journalisten“ zu schreiben. Das Thema lockt, obwohl ich weiß, dass es eine Falle ist.
Denn es gibt „den Journalisten“ (oder die Journalistin) ebenso wenig wie es den Politiker, den Ausländer, den Raucher gibt. Deshalb finde ich es auch unverantwortlich, das Fehlverhalten eines Journalisten auf die ganze Berufsgattung zu übertragen.
Das mit der Berufsgattung ist eh ein Problem: Journalist ist keine geschützte Berufsbezeichnung (übrigens mit gutem Grund). Jeder Mensch darf sich Journalist nennen. Und viele nennen sich Journalist, ohne den Anforderungen des Berufs auch nur ansatzweise gerecht werden zu können – oder zu wollen.
Die eine Maxime
Eigentlich gibt es für Journalisten nur eine einzige unumstößliche Maxime: Bleib stets bei der Wahrheit. Auch wenn’s schwerfällt. Wenn es nicht passiert ist, ist es kein Journalismus.
Dennoch kommt es immer wieder vor, dass es ein Journalist mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, wie es der Beruf eigentlich verlangt. Wird jemand dabei ertappt, geht unweigerlich eine wochenlange Debatte los, ob man der schmutzigen Journalisten-Sippe noch über den Weg trauen darf und warum nicht.
Neulich hat mich ein Kind hässlich angestarrt – soll ich deshalb die Fortpflanzung als Ganzes infrage stellen?
Bei dem Riesenbohei um den gefallenen Reporter Claas R. hat mich zunächst überrascht, dass er so lange unentdeckt blieb. Aber beim „Spiegel“ werden gern Rechercheergebnisse zu Erlebnissen umformuliert, um eine Geschichte abzurunden – siehe René Pfisters umstrittenes Seehofer-Portrait von 2010.
Nicht Erlebtes szenisch rekonstruiert
Zur Erinnerung: Die Reportage beginnt mit der detaillierten Beschreibung einer Modelleisenbahn, die im Keller des Seehoferschen Ferienhauses steht. Das gefiel den Juroren des Henri-Nannen-Preises so, dass sie die Reportage prämiiert haben.
Bei der Preisvergabe gab René Pfister auf die Frage eines Jurors zu, die Modelleisenbahn nie gesehen zu haben. Daraufhin wurde ihm der Preis wieder entzogen. „Der Spiegel“ sah in der Beschreibung kein Problem und verteidigte das Verhalten des Reporters als „szenische Rekonstruktion“ – der ursprüngliche Bericht steht immer noch online.
Ich könnte jetzt ausführlich spekulieren, ob diese Vorgeschichte Claas R. irgendwie dazu ermuntert hat, einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen – lief die Recherche ins Leere, rekonstruierte er seine Szenen halt aus der Fantasie.
Womöglich scheute die Jury aufgrund des Blätterwaldrauschens um die Entscheidung von 2010 davor zurück, dasselbe Fass bei Claas R. noch mal zu öffnen. Letztlich ist das etwas, was die Betroffenen aufarbeiten müssen. Ich sehe keine Möglichkeit, daraus etwas Allgemeingültiges abzuleiten.
Nieder mit Claas R.?
Mit einer Mischung aus Amüsement und Verärgerung habe ich gelesen, wie Claas R. in diversen Leitartikeln abgekanzelt und verdammt wurde. Ja, hier ist etwas geschehen, was nicht hätte passieren dürfen. Aber Kollegen, kommt mal wieder runter von eurem hohen Ross.
Für mich klingen „bei uns wäre das nicht passiert“ und „wie konnte dieser Skandal eigentlich passieren“ eher überheblich als überzeugend.
Jeder, der im Mediengewerbe arbeitet, sollte wissen: Dass Journalisten die Wahrheit verbiegen, kommt immer wieder vor. Das kommt aber eben nicht daher, dass Journalisten im Ganzen schlecht wären, sondern dass einzelne Personen schlechten Journalismus betreiben.
Dazu kann man auch noch ganz viel schreiben, was ganz Viele in den letzten Wochen getan haben und letztlich keinen Schritt weiterführt.
Ich finde, wir parken die Kirche jetzt wieder neben dem Dorfplatz, stellen den Motor ab und atmen tief durch. Dann sehen wir zu, dass das eigene Medium nicht die nächste Skandalquelle wird – und hoffen, dass diese Vorsicht nicht zu spät kommt.
Bonus: Für Reportagen und Kolumnen gelten unterschiedliche Spielregeln. Eine Reportage hat wahr zu sein; Reporter sind Berichterstatter. Kolumnisten sind hingegen Raconteure; die dürfen auch mal Situationen herbeidichten. Weil klar ist: Das ist keine Berichterstattung, das ist Prosa. Ach, hätte der Nannen-Preis doch eine Kategorie „Racontage“ für die beste Erzählung, dann könnte Claas R. seine schönen Preise womöglich behalten.